Djúpavík, isl. „Tiefe Bucht“ (djupa = tief, vik = die Bucht)
Wo Europa zuende geht, dort liegt Island.
Wo Island zuende geht, liegen die Westfjords.
Und wo die Westfjords zuende gehen, dort liegt Djúpavík.
Von Hólmavík aus fährt man die Straße 643 an der Ostküste der Westfjords (ja, ich weiß…) nach Norden, bis sich nach etwa 70 Kilometern die Bucht von Djúpavík öffnet. An dessen Spitze liegt der Ort mit seiner kurzen, aber turbulenten Vergangenheit.
In Stichpunkten:
- Die ersten Einwohner wurden dort im Jahr 1917 registriert.
- Zwischen 1934 und 1954 lebten und arbeiteten in Djúpavík mehr als 300 Leute.
- Der Exodus folgte schon kurz darauf, wenige Jahre später war die Bucht menschenleer.
- Erst seit 1985 ist Djúpavík wieder durchgängig bewohnt. Es existiert ein Hotel mit Restaurant.
- Der Ort besteht aus nur acht Häusern (die paar modernen Sommerhäuser nicht mitgezählt.)
- Eines dieser Gebäude war zur Zeit seiner Errichtung das größte Betongebäude Islands und eines der größten in Europa.
- 2006 fand in dem Ort ein Konzert der Rockband Sigur Rós statt. Über das Konzert wurde ein Film gedreht, der 2007 beim Isländischen Filmfestival in Reykjavik aufgeführt wurde („Heima„).
- Eine der schönsten Frauen Islands, María Guðmundsdóttir, Miss Island 1961, wuchs hier auf.
Aber der Reihe nach:
Blütezeit
Bis 1917 gab es in der Gegend lediglich einzelne Fischer. In diesem Jahr, 1917, versuchte einer von ihnen in Djúpavík eine Herings-Salzerei einzurichten. Dem Unternehmen war aber kein Erfolg beschieden, in der Depression der Zeit ging Elías Stefánsson schon zwei Jahre später pleite und ab den 1920er Jahren war der Ort wieder verlassen.
Im Jahr 1934 kam das „große Geschäft“ nach Djúpavík. Eine neue Heringsfabrik wurde gebaut, diesmal im großen Stil. Die 90 Meter lange Fabrik mit drei Stockwerken war das modernste, was es zu dieser Zeit gab. Gebaut vollständig aus Beton wurden die neuesten Produktionsmethoden umgesetzt. Fließbänder zogen sich von den Piers, wo die Hochseeschiffe ihren Fang entluden durch die ganze Fabrik. Massive Öfen sorgten für Dampf, der einerseits das Fischmehl trocknete und andererseits die Maschinen antrieb. Elektrogeneratoren lärmten Tag und Nacht. Riesige, beheizte Silos nahmen das Fischöl auf. Auf großen Lagerflächen stapelte man das Fischmehl in Säcken, bis der Weltmarktpreis zum Verkauf einlud. Vom ersten Spatenstich bis zur Inbetriebname der Fabrik dauerte es trotz des harten Klimas nur ein einziges Jahr.
Der Umsatz in der Fabrik war gigantisch. Der Reichtum an Heringen schien unbegrenzt. Alleine die drei Silos zur Aufbewahrung des Fischöls (in Zeiten des Krieges bedeutsam als Schmierstoff) hatten eine Kapazität von 5600 Tonnen. Die Fabrik arbeitete hochprofitabel, bereits nach wenigen Jahren hatte sich die riskante Investition gelohnt.
Nach dem Krieg allerdings blieben die Heringsschwärme immer öfter aus. Das Jahr 1944 sah zum letztenmal einen großen Fang. Es wurde noch versucht, die Fabrik auf andere Fischarten umzustellen, aber wegen der spezialisierten Produktionsmethoden war das nicht erfolgreich. Im Jahr 1954 wurde die Fabrik endgültig geschlossen und die Betreiberfirma in den Jahren danach liquidiert.
Der Clou:
Die Fabrik wurde nach ihrer Schließung nicht ausgeräumt. Wegen der Abgeschiedenheit von Djúpavík lohnte es sich nicht, die Geräte zu demontieren und zu verschiffen. Alle Maschinen sind bis heute an ihrem Platz. Jahrzehnte lang waren die Fabrik und das Inventar den Elementen ausgesetzt. Unter dem Rost aber ist alles noch so, wie es vor einem Dreiviertel Jahrhundert verlassen wurde.
Heute
Im Jahr 1985 kauften Eva Sigurbjörnsdóttir and Asbjorn Þorgilsson die alte Fabrik und zogen mit ihren drei Kindern nach Djúpavík. Sie renovierten zunächst eines der alten Gebäude und eröffneten darin ein Hotel. Seit dem führen sie dort einen vorsichtigen Tourismusbetrieb und bemühen sich nebenbei darum, die alte Fabrik zu erhalten und wieder zugänglich zu machen.
Die Fabrik
Der langgezogene Haupttrakt der Fabrik zieht sich vom alten Pier ins Land. Ein Förderband brachte die Heringe direkt vom Schiff quer durch die Fabrik in den Vorderteil, wo die großen Dampferzeuger standen.
Im Bereich des großen Schornsteines befanden sich die großen, mit Öl befeuerten Kessel.
Der große Hauptkessel erzeugte den Dampf zur Verwendung in der ganzen Anlage. Der Kessel war nicht etwa speziell für die Fabrik angefertigt worden, sondern stammte aus einer Havarie: Ein Dampfschiff war irgendwo an der Küste Islands auf Grund gelaufen und so stark beschädigt worden, daß eine Reparatur nicht mehr in Frage kam. Statt dessen verkaufte man das Schiff in Einzelteilen zum Schrottwert, darunter den Kessel, der für Ölfeuerung umgebaut und nach Djúpavík geschafft wurde.
Wie bekam man den riesigen Kessel in die Fabrik hinein? Ein Kran stand hier, weitab von allen Hilfsmitteln, nicht zur Verfügung. Der Kessel wurde daher mit Muskelkraft an seinen Bestimmungsort gerollt. Allerdings ergab sich dabei ein Problem: Der Kessel besitzt oben eine Art „Turm“ und ließ sich deswegen auf ebener Fläche immer nur ein paar Meter weit rollen. Also hob man ganz einfach alle paar Meter eine Grube aus, immer dort, wo der „Turm“ sonst den Boden berührt hätte.
Direkt vom Fließband fielen die Heringe in eine von zwei Mühlen, wo sie zerkleinert und gemahlen wurden. In großen Trommeln wurde danach das Fischöl abgeschieden und die verbleibende Masse getrocknet, wieder unter Verwendung des heißen Dampfes aus dem großen Heizkessel.
In diese Trichter wurde das Fischmehl geblasen, um den letzten Rest Feuchtigkeit zu entfernen. Offensichtlich hat die Installation bessere Tage gesehen – heute sind die beiden Ungetüme so instabil, daß sie bei der leisesten Berührung zusammenzubrechen drohen.
Schließlich wurde das Mehl in Säcke abgefüllt. Der Sack wurde unter dem Einfüllstutzen angesetzt und nach dem Verschließen direkt von einem Lastenaufzug (in der Holzverschalung) ins Lager befördert.
Das Öl landete hier. Dies ist das Innere eines der drei gigantischen Silos, in denen das Öl bis zur Verschiffung aufbewahrt wurde. Die Leitungen am Boden dienten zum Beheizen des Tanks, um das Öl bei den niedrigen Aussentemperaturen flüssig zu halten.
Hier die Silos von aussen. Die gesamte Fabrik wurde aus Beton erbaut und war zu ihrer Zeit eines der größten Betongebäude Europas. Zum anmischen wurde kein Süßwasser, sondern Meerwasser verwendet. Dieses Salz tritt heute langsam wieder aus dem Beton aus und bildet die „Stalaktiten“, die überall zu sehen sind.
Im Hintergrund eine weitere Sehenswürdigkeit:
Dies sind die Überreste der MS Sudurland. Das alte Dampfschiff wurde hier kurzerhand an Land gesetzt, um fürderhin als Unterkunft zu dienen. Es gab zwei Arten von Beschäftigung in der Fabrik:
Das Einsalzen der Heringsfilets wurde von rund 200 Frauen erledigt. Die Arbeit fand an langen Tischen unter freiem Himmel statt, bei Wind und Wetter – ein Knochenjob. Faulenzen war nicht angesagt, für jedes volle Faß erhielt eine Arbeiterin eine Münze. Diese Münzen wurden später gegen Lohn eingetauscht. Die Frauen wohnten im größten (neben dem Haupthaus der Fabrik) Gebäude des Ortes, dem heutigen Hotel.
In der Fabrik selbst arbeiteten etwa 60 Männer. Auch hier war die Arbeit brutal: Der Höllenlärm der Maschinen, allen voran die dieselelektrischen Stromerzeuger. Dazu körperlich anstrengende Arbeit von früh bis spät, keine Freizeit, in einem mörderischen Klima. Dazu wohnten die Männer auf dem angelandeten Schiff, weil für sie keine Unterkünfte an Land zur Verfügung standen. Auch das Schiff bot nur Platz für 30 Personen, es wurde im Schichtbetrieb geschlafen.
Trotzdem war eine Arbeitsstelle in Djúpavík begehrt. Der Lohn war hoch, und die Arbeitsbedingungen für die Gegend und die Zeit geradezu luxuriös: Es gab einen Arzt, die Versorgung mit Lebensmitteln war ausreichend, und dank der Fabrik mit ihren Dampferzeugern gab es am Ende jeder Schicht eine heiße Dusche.
Ein solches Mittel gegen Dunkelheit, verregnetes Wetter und ganz allgemeinen Missmut gibt es in der Gegend auch heute noch:
Das Schwimmbad Krossneslaug (gelegen noch einige Kilometer weiter nach Norden auf der Landzunge Krossnes; Foto: Sven Herdt) liegt direkt am Meer. Am Ende eines Tages im 38 °C warmen Wasser zu entspannen und gemütlich zu verfolgen, wie nur wenige Meter vor einem die Brecher des Atlantik einschlagen ist einfach unvergleichlich.